Hochsensibilität bei Kindern – zu diesem Thema gibt es zwar viel Ratgeberliteratur, aber bisher nicht viel Forschung. Dabei fragen sich Eltern oft: Ist mein Kind hochsensibel? Und gibt es dafür einen Test? Ein allgemein anerkannter Test für Hochsensibilität bei Kindern existiert zwar nicht. Aber Forscher*innen haben in den letzten Jahren Instrumente entwickelt, mit denen man einschätzen kann, ob ein Kind hochsensibel ist.
Wie äußert sich Hochsensibilität bei Kindern?
Die ersten Überlegungen und Ratschläge zur Förderung hochsensibler Kinder stammen von Elaine Aron. Diese sind auch heute noch wertvoll. [1]
Nach der Theorie von Elaine Aron ist Hochsensibilität durch vier Merkmale gekennzeichnet: gründliche Informationsverarbeitung, Übererregbarkeit, emotionale Intensität und Empfindsamkeit der Sinne. [2]
Gründliche Informationsverarbeitung
Diese zeigt sich bei Kindern u.a. darin, dass sie sich die Dinge erst einmal genau anschauen, bevor sie sich z.B. an Spielen oder Unternehmungen beteiligen. Sie stehen zumindest anfangs eher am Rand einer Gruppe. Sie brauchen vor allem für neue Aufgaben mehr Zeit als andere Kinder. Und sie sind bemüht, alles richtig zu machen.
Übererregbarkeit
Dieses Merkmal kann man daran erkennen, dass Kinder manchmal ohne sichtbaren Anlass plötzlich weinen und schreien. Wenn ihnen alles zu viel wird, können hochsensible Kinder geradezu ‚ausrasten‘. Sie können dann um sich schlagen und sind nur schwer zu beruhigen. Auch brauchen sie Rückzugsmöglichkeiten, d.h. Zeiten und Räume, in denen sie für sich sein können und wo keine Anforderungen an sie gestellt werden.
Emotionale Intensität und Empathie
Auch diese Eigenschaften sind kennzeichnend für hochsensible Kinder. Das zeigt sich beispielsweise daran, dass sie ein gutes Gespür für Stimmungen haben und sich gut in andere Menschen hineinversetzen können. Daher reagieren sie auch sehr stark auf Gewaltdarstellungen in den Medien. Weiterhin tun sie sich schwer mit Kritik und Zurückweisungen aller Art.
Ausgeprägte Sinneswahrnehmung
Schließlich ist die Sinneswahrnehmung bei hochsensiblen Kindern stark ausgeprägt. Der Lärmpegel im Kindergarten oder in der Schulklasse kann ihnen schnell zu viel werden. Sie können intensiv auf Gerüche reagieren; Wolle und Etiketten in der Kleidung kratzen manchmal schier unerträglich auf der Haut. Und sie reagieren nicht nur auf den Geschmack von Speisen und Getränken, sondern auch auf die Textur, die Beschaffenheit von Nahrungsmitteln. Es kann sein, dass sie sich weigern, bestimmte Dinge zu essen oder zu trinken.
Genauso wie bei Erwachsenen gilt auch bei Kindern, dass Hochsensibilität keine Erkrankung ist und auch nicht krank macht. Hochsensible Kinder lassen sich ebenso unterstützen, sei es kurzfristig mit Techniken zum ‚Herunterfahren‘, mittelfristig durch Verfahren zum Aufbau von Resilienz (wie beispielsweise Achtsamkeitsmeditation, natürlich kindgerecht aufbereitet) oder langfristig z.B. mittels Homöopathie.
Wie stellt man Hochsensibilität bei Kindern fest?
Ich werde oft von Eltern gefragt, ob es einen Test für Hochsensibilität bei Kindern gibt. In der Wissenschaft werden an einen Test im eigentlichen Sinn hohe Anforderungen gestellt, und die Entwicklung eines solchen Instruments ist sehr zeit- und arbeitsaufwändig. Einen Test, mit dem man in diesem Sinn Hochsensibilität bei Kindern feststellen kann, gibt es nicht (übrigens auch nicht für Erwachsene).
Es gibt aber Fragebögen zur Hochsensibilität bei Kindern. Hier kreuzen die Eltern an, inwieweit bestimmte Aussagen auf ihr Kind zutreffen. Die Aussagen beschreiben Verhaltensweisen, die nach Einschätzung der Autor*innen für hochsensible Kinder typisch sind. Je mehr solcher Aussagen die Eltern mit ‚ja‘ beantworten, desto wahrscheinlicher ist es, dass das betreffende Kind hochsensibel ist.
Der erste Fragebogen von Elaine Aron
Einen ersten solchen Fragebogen zur Hochsensibilität bei Kindern hat Elaine Aron entwickelt.[1] Er enthält Aussagen wie:
- Mein Kind kann nach einem aufregenden Tag nur schwer einschlafen.
- Manchmal scheint es mir, als könnte mein Kind meine Gedanken lesen.
- Mein Kind stellt viele Fragen.
Diese Aussagen werden jeweils von den Eltern beantwortet.
Anders als bei Elaine Arons Fragebogen zur Feststellung von Hochsensibilität bei Erwachsenen ist dieses Instrument jedoch nicht wissenschaftlich abgesichert. Die Fragen basieren zwar auf Interviews, die Elaine Aron mit den Eltern hochsensibler Kinder durchgeführt hat. Es wurde aber nie geprüft, wie zuverlässig (reliabel) und wie valide der Fragebogen Hochsensibilität bei Kindern tatsächlich erfasst.
Der Fragebogen bietet einen guten Anhaltspunkt dafür, Hochsensibilität bei Kindern festzustellen – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Dasselbe gilt auch für andere Fragebögen, wie man sie öfters im Internet oder in Ratgebern für Eltern hochsensibler Kinder findet.
Fragebogen für Kinder und Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren
Vor wenigen Jahren entwickelte eine Gruppe von Wissenschaftler*innen, darunter auch Elaine Aron, einen kürzeren Fragebogen zur Feststellung von Hochsensibilität bei Kindern und Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren. Ziel der Autor*innen war es, einen Fragebogen zu verfassen, der auch wissenschaftlichen Anforderungen genügt. [3]
Die Endfassung des englischsprachigen Fragebogens enthält 12 Fragen, die die Kinder selber beantworten (d.h. angeben, inwieweit die Aussagen auf sie zutreffen).
Die Aussagen lauten z.B. (eigene Übersetzung aus dem Englischen):
- Ich mag es nicht, wenn vieles auf einmal passiert.
- Bei lauten Geräuschen fühle ich mich unwohl.
- Ich mag es, wenn es gut riecht.
In der Zwischenzeit wurde eine verbesserte Fassung des Fragebogens entwickelt, die insgesamt 21 Fragen umfasst. Diese neue Fassung des Fragebogens wurde auch in mehreren Ländern eingesetzt, etwa den Niederlanden und Belgien. [4]
Mit diesem Fragebogen liegt nun ein Instrument vor, mit dem sich auch nach wissenschaftlichen Kriterien Hochsensibilität bei Kindern feststellen lässt. Eine deutsche Fassung ist online verfügbar. Allerdings wurde diese Übersetzung m.W. bisher nicht wissenschaftlich validiert.
Fragebogen für Jugendliche zwischen 15 und 18 Jahren
Einen deutschsprachigen Fragebogen für Hochsensibilität bei Kindern und Jugendlichen entwickelte Teresa Tillmann als Teil ihrer Dissertation. [5]
Anders als der Fragebogen von Pluess et al. ist das Instrument von Tillmann eher für Jugendliche im Alter zwischen 15 und 18 Jahren gedacht. Die Jugendlichen geben an, inwieweit zehn Aussagen auf die zutreffen, z.B.:
- Ich bin einfühlsam.
- Kunst, Musik und Film können mich tief bewegen.
- Wenn mich jemand bei meiner Arbeit beobachtet, werde ich nervös.
Auch dieser Fragebogen genügt wissenschaftlichen Kriterien. Er bietet eine gute Möglichkeit festzustellen, ob Jugendliche hochsensibel sind.
Hochsensibilität bei Kindern im Kindergartenalter
Zur Feststellung von Hochsensibilität bei Kindern im Kindergartenalter haben Francesca Lionetti und ihre Kolleg*innen ein Instrument entwickelt. Anders als bei den bisher vorgestellten Instrumenten handelt es sich dabei nicht um einen Fragebogen. Stattdessen werden den Kindern sechs Aufgaben vorgegeben. [6]
Der Forscher oder die Forscherin beobachtet dann, wie das Kind sich in den entsprechenden Situationen verhält. Das Verhalten des Kindes in jeder Situation wird einer Beurteilungskategorie zugeordnet. Über die sechs Aufgaben hinweg ergibt sich dann eine Gesamteinschätzung, ob ein Kind hochsensibel ist.
Es werden u.a. die folgenden Aufgaben vorgegeben:
- Eine neue Umgebung erkunden: Wie vorsichtig ist das Kind? Wieviel Interesse zeigt es an der neuen Umgebung?
- Forscher*in gibt dem Kind Anweisungen, wie es einen Turm bauen soll: Wie genau hört das Kind zu? Unterbricht es den Forscher oder die Forscherin?
Erste Studien zeigen, dass sich Hochsensibilität bei Kindern im Kindergartenalter mit diesem Beobachtungsinstrument gut erfassen lässt. Auch dieses Instrument genügt wissenschaftlichen Anforderungen.
Zusammenfassung
Lange Zeit gab es kaum Möglichkeiten, Hochsensibilität bei Kindern nach wissenschaftlichen Kriterien festzustellen. Dies hat sich gerade in den letzten Jahren geändert, und es wurden Fragebögen für Kinder unterschiedlicher Altersgruppen entwickelt. Auch ein Beobachtungsinstrument für Kinder im Kindergartenalter existiert inzwischen.
Gerade in der Schule kommt es für hochsensible Kinder oft zu Problemen. Auch wissen Lehrer*innen mit dem Begriff der Hochsensibilität oft nicht viel anzufangen. Abhilfe schaffen soll hier ein weiterer Fragebogen von Francesca Lionetti und ihren Kolleg*innen. Hier können Lehrer*innen einschätzen, ob ein Kind hochsensibel ist. Dieser Fragebogen wird aber gerade entwickelt und ist noch nicht veröffentlicht. [7]
Literatur
[1] Aron, Elaine (2008). Das hochsensible Kind: Wie Sie auf die besonderen Schwächen und Bedürfnisse Ihres Kindes eingehen. München: Mvg Verlag.
[2] Aron, Elaine N., Aron, Arthur, & Davies, Kristin M. (2005). Adult shyness: the interaction of temperamental sensitivity and an adverse childhood environment. Personality & Social Psychology Bulletin, 31(2), 181–197.
[3] Pluess, Michael et al. (2017). Environmental sensitivity in children: Development of the Highly Sensitive Child Scale and identification of sensitivity groups. Developmental Psychology, 54(1), 51-70.
[4] Weyn, Sophie et al. (2021). Psychometric properties of the Highly Sensitive Child scale across developmental stage, gender, and country. Current Psychology, 40(2), 3309-3325.
[5] Tillmann, Teresa, El Matani, Katharina & Duttweiler, Heather (2018). Measuring Environmental Sensitivity in educational contexts: A validation study with German-speaking students. Journal of Educational and Developmental Psychology, 8(2). doi:10.5539/jedp.v8n2p17
[6] Lionetti, Francesca et al. (2019). Observer-rated environmental sensitivity moderates children’s response to parenting quality in early childhood. Developmental Psychology, 55(11), 2389–2402.
[7] Lionetti, Francesca et al. (2021). The Highly Sensitive Child Scale-Teacher-Report version: Development of a new measure for sensitivity in primary school children. Vortrag auf der SRCD-Tagung, April 2021.