Reizüberflutung bei hochsensiblen Menschen

Reizüberflutung bei hochsensiblen Menschen – wenn Sie selber hochsensibel sind, wissen Sie vermutlich genau, was damit gemeint ist. Aber was genau ist eigentlich Reizüberflutung?

In diesem Beitrag wird Reizüberflutung als eine Form von Stress beschrieben. Daraus ergeben sich Anhaltspunkte dafür, wie man mit diesem Stress umgehen kann, auf welche Bewältigungsstrategien Hochsensible also bei Stress zurückgreifen können.

Die meisten Menschen verstehen sofort, was mit Reizüberflutung gemeint ist. Dennoch ist es kein medizinischer Fachbegriff – Ärztinnen und Ärzte stellen daher auch keine Diagnose, die ‚Reizüberflutung‘ oder ‚Überstimulation‘ lautet.

Was ist Reizüberflutung?

Aber was genau macht eigentlich diesen Zustand aus? In ihrem Fragebogen für Hochsensibilität beschreibt Elaine Aron die Reizüberflutung bei hochsensiblen Menschen recht genau.

 In den Fragen geht es etwa darum, ob man sich von Sinneseindrücken und Reizen (vor allem von Geräuschen, hellem Licht usw.) leicht überfordert oder sogar überwältigt fühlt. Sie fragt, ob man in bestimmten Situationen schnell gestört, nervös, unruhig, durcheinander oder aufgeregt reagiert. Und in weiteren Fragen geht es schließlich darum, ob man in solchen Momenten das Bedürfnis hat, sich zurückzuziehen.

Zusammengefasst kann man also sagen: Reizüberflutung ist ein Zustand, in dem man sich innerlich durcheinander, nervös, aufgeregt fühlt. Alles ist zu viel. Und folglich hat man das Bedürfnis, weitere Reize gar nicht erst an sich heranzulassen.

Wie hängen Reizüberflutung und Stress zusammen?

Der Zustand der Reizüberflutung entspricht ziemlich genau der ersten Stufe der Stressreaktion, wie sie Hans Selye, Pionier der Stressforschung, in den 1930er Jahren definiert hat, nämlich eine Alarmreaktion: Sie  entsteht, wenn ein Organismus mit einem Reiz konfrontiert ist, der ihn aus dem Gleichgewicht bringt – es kommt zum Distress [1].

Wenn das passiert, reagiert der Organismus mit dem sog. Allgemeinen Adaptationssyndrom: Im Körper wird das sympathische Nervensystem aktiviert. Das bedeutet vor allem, dass Adrenalin freigesetzt wird. Damit wird der Organismus in die Lage versetzt, entweder zu kämpfen (etwa gegen den berüchtigten Säbelzahntiger) oder sich der Situation durch Flucht zu entziehen (fight or flight).

Bei dem Modell von Selye handelt es sich um ein sog. biologisches Stressmodell aus den Anfängen der Stressforschung. Er ging davon aus, dass ein Stressor sich auf jeden Organismus gleich auswirkt. Heute wissen wir, dass das nicht der Fall ist. Gerade hochsensible Menschen machen die Erfahrung, dass sie sich von Reizen oder Situationen gestresst fühlen, die anderen Menschen nichts ausmachen. Warum das so ist, wird von später entwickelten Modellen der Stressreaktion besser erklärt (s. unten das transaktionale Modell von Lazarus und Folkman).

Der Zustand der Reizüberflutung bei hochsensiblen Menschen ist also eine Form der Stressreaktion. Es handelt sich um einen Alarmzustand, der entsteht, wenn Hochsensible so vielen Reizen unterschiedlicher Art (dazu unten mehr) ausgesetzt sind, dass sie dadurch aus dem Gleichgewicht geraten.

Das Adrenalin, das in diesem Zustand freigesetzt wird, sorgt dafür, dass hochsensible Menschen sich bei Reizüberflutung nervös und durcheinander fühlen.

Stress ist individuell: Das transaktionale Stressmodell

Die weitere Stressforschung hat gezeigt, dass Stress etwas ganz Individuelles ist. Was für den einen Menschen eine reizvolle Herausforderung darstellt (Selye spricht hier vom Eustress, im Gegensatz zum Distress), führt bei dem anderen vielleicht zu einer Reizüberflutung und Überforderung.

Eine Erklärung, warum Menschen sich in ihrem Stresserleben unterscheiden, bietet das Transaktionale Stressmodell von Lazarus und Folkman [2]. Sie führen drei Begriffe ein, die in diesem Zusammenhang besonders wichtig sind: die drei Phasen der Bewertung, die Einbeziehung der eigenen Bewältigungsmöglichkeiten (Ressourcen) und die verschiedenen Bewältigungsstrategien (Coping).

Das Neue und Wichtige an dieser Theorie ist: Stresserleben ist nicht im Reiz, nicht in der Situation begründet. Sondern Stresserleben entsteht aus dem Zusammenwirken von Reiz, Bewältigungsmöglichkeiten des einzelnen Menschen und seiner Einschätzung der Situation.

Die erste Bewertung

Lazarus und Folkman gehen davon aus, dass für jeden Reiz zunächst eine primäre Bewertung stattfindet. Hier geht es darum, wie der Reiz oder die Anforderung sich vermutlich auf die eigene Person auswirkt. Ein Reiz wird hier entweder als irrelevant, als positiv oder als gefährlich eingestuft.

Wenn ein hochsensibler Mensch drei Dinge auf einmal tun soll, dann stuft er diese Situation vermutlich als potenziell gefährlich ein. Er weiß aus Erfahrung, dass er sich nicht gut auf drei Dinge gleichzeitig konzentrieren kann. Eine andere Person genießt es dagegen vielleicht, mehrere Bälle gleichzeitig in der Luft zu halten. Sie bewertet die Anforderung daher als positiv.

Wenn jemand zu dem Schluss kommt, dass ein Reiz oder eine Anforderung gefährlich sein könnte, dann setzt sich die primäre Bewertung weiter fort: Ist der Reiz bedrohlich – was könnte passieren (z.B.: Drei Dinge auf einmal – das schaffe ich nicht)? Ist der Reiz möglicherweise schädlich (Wenn ich einen Fehler mache, dann könnte mich das meinen Job kosten)? Oder ist der Reiz oder die Situation zwar eine Herausforderung, aber letztlich doch zu bewältigen (wenn ich z.B. das Telefon abstelle und mich ganz auf die drei Aufgaben konzentriere)?

Die zweite Bewertung

Hier schließt zugleich die sekundäre Bewertung an. Sie beruht auf der Einschätzung der eigenen Ressourcen. Dabei spielen sowohl die persönlichen Fähigkeiten als auch die Situation eine Rolle: Wieviel Handlungsspielraum habe ich: Kann ich vielleicht eine der drei Aufgaben ans Ende des Tages verschieben? Gibt es in der Situation andere Menschen, die mich vielleicht unterstützen können? Kann ich eine Aufgabe oder einen Teil der Aufgaben an andere delegieren?

Zum Stresserleben kommt es erst dann, wenn ein Mensch das Gefühl hat, dass die Anforderungen der Situation die eigenen Möglichkeiten und Ressourcen übersteigen: Die drei Dinge müssen jetzt, sofort und fehlerfrei erledigt werden – und das schaffe ich nicht.

Nun muss man mit der Stress-Situation irgendwie zurechtkommen – man muss versuchen, die Situation zu bewältigen. Hier kommen die sog. Coping-Strategien ins Spiel, d.h. Bewältigungsstrategien. In der ursprünglichen Formulierung der Theorie unterscheiden Lazarus und Folkman zwei Arten von  Strategien: Man kann versuchen, die Situation zu verändern oder umzudeuten (situations- oder problembezogene Bewältigung, z.B.: sich krank melden; oder, wie beschrieben, einen Teil der Aufgaben delegieren) oder versuchen, auf die eigenen Gefühle und die eigene Wahrnehmung der Situation einzuwirken (emotionsbezogenes Coping, z.B. sich sagen, dass man eigentlich sowieso längst kündigen wollte).

Die Neubewertung

Wenn man eine oder mehrere Bewältigungsstrategien eingesetzt hat, kommt es schließlich zu einer Neubewertung der Situation. Vielleicht wird die Situation immer noch als potenziell schädlich oder bedrohlich eingeschätzt, aber nicht mehr im selben Maß wie vorher (z.B.: Ja, das ist viel und wird mich viel Kraft kosten – aber es ist zu schaffen). In diesem Fall wird auch das Stresserleben weniger.

Vielleicht zeigt sich aber auch, dass man durchaus über Bewältigungsmöglichkeiten verfügt, obwohl man das vorher nicht gedacht hätte (vielleicht hat man für zwei der drei Aufgaben schon Routinen entwickelt und man bearbeitet sie fast schon automatisch). Dann wird die Situation nicht mehr als Stressor, sondern als interessante Herausforderung wahrgenommen.

Aber auch die umgekehrte Entwicklung ist möglich: dass man zunächst dachte, man könnte eine Herausforderung bewältigen – sie dann aber doch die eigenen Ressourcen übersteigt und Stresserleben hervorruft (z.B. wenn man für eine der Aufgaben noch Unterlagen braucht, die aber nicht verfügbar sind).

Reizüberflutung bei hochsensiblen Menschen nach dem transaktionalen Stressmodell

Mit dem Transaktionalen Stressmodell lässt sich gut erklären, weshalb hochsensible Menschen in einer Umwelt, die auf die Bedürfnisse nicht Hochsensibler ausgerichtet ist, öfter und schneller Stress und Reizüberflutung erleben.

Die Reizschwelle ist niedrig

Erstens liegt die Schwelle für Sinnesreize bei ihnen niedriger als bei nicht hochsensiblen Menschen. Sie hören also beispielsweise schon leise Geräusche oder riechen etwas, wo andere noch gar nichts wahrnehmen. Deswegen nehmen sie in der Summe auch mehr Sinnesreize wahr, während die ‚leisen‘ Reize bei nicht Hochsensiblen ausgeblendet bleiben.

Diese vermehrte Wahrnehmung bei Hochsensiblen gilt im Übrigen nicht nur für Sinnesreize. Hochsensible haben ein feines Gespür für Stimmungen, für Zwischentöne, für alles, was in der Luft liegt, was mitschwingt, aber vielleicht nicht ausgesprochen wird. Wenn ein guter Freund beispielsweise gerade eine schlechte Nachricht bekommen hat, darüber auch gerade nicht sprechen möchte, wird ein hochsensibler Mensch intuitiv spüren, dass etwas nicht in Ordnung ist. Dies trägt ebenfalls zu der schieren Menge an Informationen bei, die zu verarbeiten sind.

Die Wahrnehmung ist intensiver

Zweitens ist die Wahrnehmung hochsensibler Menschen intensiver. Dies gilt für Sinnesreize, aber mehr noch für die gerade erwähnte Wahrnehmung von Stimmungen und Zwischentönen. Hochsensible Menschen reagieren darauf ihrerseits mit intensiven Gefühlen – indem sie beispielsweise stark mit anderen mit-leiden oder sich gemeinsam mit ihnen freuen. Auch wenn der Freund in dem gerade genannten Beispiel nicht sagt, was ihn gerade belastet, wird ein hochsensibler Mensch die Belastung spüren und mit-empfinden.

Informationen werden gründlich verarbeitet

Drittens schließlich verarbeiten hochsensible Menschen Informationen gründlich: Sie machen sich viele Gedanken. Das gilt ganz besonders für alles Soziale – für alles, was mit Beziehungen zu anderen Menschen zu tun hat. Wenn sie also beispielsweise spüren, dass mit einem Freund etwas nicht stimmt, er aber nicht sagt, was es ist: Dann wird ein hochsensibler Mensch sich fragen, ob er vielleicht etwas gesagt hat, was der Freund falsch verstanden hat, was er ihm nun übel nimmt – wie er die Angelegenheit am besten anspricht – ob er sie überhaupt ansprechen sollte….

All diese Gedanken stellen weitere Reize dar, die es zu verarbeiten gilt. Und jede der vorgestellten Situationen stellt eine Anforderung dar, die ebenfalls (primär) zu bewerten ist. Wenn man sich vorstellt, dass ein hochsensibler Mensch mehr Sinnesreize zu verarbeiten hat, dass noch eine Vielzahl an Gedanken und Gefühlen hinzukommen und dass hochsensible Menschen all dies intensiver empfinden – dann wird schnell deutlich, weshalb hochsensible Menschen schnell in einen Zustand der Reizüberflutung geraten können.

Hinzu kommt, dass bestimmte Situationen – wie z.B. mehrere Dinge auf einmal tun zu müssen oder beim Durchführen von Aufgaben beobachtet zu werden – für hochsensible Menschen schwieriger zu bewältigen sind. Hochsensible werden solche Situationen daher eher als potenziell gefährlich einstufen.

Kurzzeitiger und langfristiger Stress

Allen Menschen begegnen immer wieder Situationen, die Stress bereiten. Das gehört zum Leben dazu. Dass hochsensible Menschen manchmal Reizüberflutung erleben, ist daher zwar nicht angenehm, aber auch nicht weiter beunruhigend.

Problematisch wird es allerdings, wenn der Stress zur ‚Dauereinrichtung‘ wird. Das passiert, wenn die Situation, die wir als bedrohlich oder schädigend erleben, über längere Zeit erhalten bleibt – und wenn wir zugleich keine ausreichenden Bewältigungsstrategien haben, mit denen wir unseren Stress herunterfahren können.

Bei hochsensiblen Menschen ist das der Fall, wenn ihre Lebensumstände nicht ihren Bedürfnissen entsprechen. Das kann auf Arbeitssituationen zurückzuführen sein – man denke beispielsweise an die Arbeit im Großraumbüro mit hohem Geräuschpegel oder an Arbeitsverhältnisse mit hohem Termindruck. Das Familienleben kann hier eine Rolle spielen – etwa ein Partner oder eine Partnerin, die ein deutlich höheres Bedürfnis haben, abends noch etwas zu unternehmen – oder das Leben mit kleinen Kindern, das wenig Zeit zum Rückzug lässt. Auch die Wohnsituation kann für hochsensible Menschen zur Dauerbelastung werden, z.B. bei lauten Nachbarn oder in einer hellhörigen Wohnung.

Dauerstress schädigt jedoch die Gesundheit: Wir fangen uns schneller eine Erkältung ein. Der Blutdruck geht nach oben, und das kann langfristig zu Schäden an Gefäßen und Organen führen, bis hin zum Herzinfarkt oder Schlaganfall. Außerdem kann es zu Verspannungen, Magen- und Verdauungsproblemen, Kopfschmerzen, Konzentrationsschwierigkeiten, Vergesslichkeit, Schlafstörungen und bei Frauen zu Zyklusstörungen kommen. Auch psychisch tut uns Dauerstress nicht gut. Zu den häufigsten psychischen Folgen von Dauerstress gehören Erschöpfung, Angststörungen und Depression.

Und in der Tat gibt es in der Forschung Anhaltspunkte dafür, dass hochsensible Menschen mehr Stress erleben und auch vermehrt über gesundheitliche Probleme berichten, insbesondere Allergien, Migräne, chronische Erschöpfung sowie Chemikalien- und Elektrosensitivität [3, 4, 5]. Um sich selber zu schützen, ist es daher wichtig, dass hochsensible Menschen über Strategien verfügen, mit Stress umzugehen und ihr Stresserleben zu vermindern.

Wie hochsensible Menschen Reizüberflutung und Stress bewältigen können

Auch bei der Bewältigung von Stress ist es hilfreich, zwischen kurzzeitiger Reizüberflutung und längerfristigem Stress zu unterscheiden.

Problembezogene Strategien

Lazarus und Folkman unterscheiden im Transaktionalen Stressmodell zwischen problem- und emotionsbezogenen Bewältigungsstrategien. Bei Reizüberflutung nutzen Hochsensible meist intuitiv eine problembezogene Strategie, nämlich die Flucht – soweit das möglich ist: indem sie z.B. ein lautes Restaurant verlassen oder sich aus der grellen Sonne in den Schatten setzen.

Im Alltag ist die vollständige Flucht aber oft nicht möglich: Wenn man mit Freunden in einem Restaurant sitzt oder in einer Besprechung allzu viele Informationen auf einen einprasseln, dann kann man nicht einfach aufstehen und gehen.  In solchen Situationen sind aber zumindest kürzere Pausen möglich – indem man sich beispielsweise kurz entschuldigt und für fünf Minuten auf die Toilette zurückzieht. Auch dies ist eine problembezogene Strategie. Andere problembezogene Strategien wären etwa das Tragen von lärmreduzierenden Kopfhörern oder das Nutzen von ‚white noise‘, um andere Geräusche zu maskieren.

Solche problembezogenen Strategien greifen aber eben nur in der jeweiligen Situation. Das nächste Mal ist man dem problematischen Reiz, der schwierigen Situation oder Anforderung wieder genauso ausgesetzt. Längerfristig ist es daher wichtig, auch andere Strategien der Stressbewältigung zu entwickeln.

Emotionsbezogene Strategien

Hier sind zunächst die emotionsbezogenen Strategien wichtig. Man kann z.B. lernen, in Stress-Situationen das sympathische Nervensystem ‚herunterzufahren‘: Dadurch sinkt der Adrenalinspiegel im Körper, und man wird ruhiger. Wie das geht, das werde ich demnächst in einem weiteren Blogbeitrag beschreiben. Andere emotionsbezogene Strategien bestehen z.B. darin, sich Unterstützung durch andere Menschen zu holen oder anderen Menschen deutlicher Grenzen zu setzen.

Zukunftsbezogene Strategien

In den letzten Jahrzehnten haben Forscherinnen und Forscher das Modell von Lazarus und Folkman erweitert. So unterscheiden beispielsweise die Forscherinnen Biggs, Brough und Drummond zwischen reaktiven, antizipatorischen, präventiven und proaktiven Bewältigungsstrategien [6]. Lazarus und Folkman haben sich vor allem mit den reaktiven Strategien befasst – also mit solchen Strategien, die man anwenden kann, wenn man schon in eine Stress-Situation geraten ist bzw. sich von Reizen und Anforderungen überflutet fühlt.

Die anderen Bewältigungsstrategien sind dagegen zukunftsgerichtet. Eine antizipatorische Strategie besteht darin, dass man sich schon vorab überlegt, was man in einer schwierigen und stressauslösenden Situation machen wird. Vielleicht weiß man, dass man schlecht nein sagen kann, wenn eine Freundin um einen Gefallen bittet – obwohl das eigentlich die eigenen Kräfte übersteigt. Dann kann man sich schon vorher zurechtlegen, wie man so ablehnt, dass es die Freundin nicht verletzt und es sich auch für einen selbst richtig anfühlt. So könnte man z.B. sagen: In vier Wochen mache ich das gerne – aber am kommenden Wochenende passt es für mich leider nicht.

Wenn man eine präventive Strategie anwendet, dann bemüht man sich darum, dass eine bestimmte anstrengende Situation gar nicht erst eintritt. Wer – wie ich – in Bremen wohnt, kann sich z.B. vornehmen, an solchen Tagen nicht in die Innenstadt zu fahren, an denen ein Fußballspiel von Werder Bremen stattfindet. Denn dann sind die Straßen und Busse oft voller angetrunkener Fans – sowohl von Werder Bremen als auch vom gegnerischen Verein.

Letztlich sind präventive Strategien aber Vermeidungsstrategien und damit langfristig auch nicht unbedingt geeignet.  Wenn ein hochsensibler Mensch alle Situationen vermeidet, die irgendwie anstrengend sein könnten, dann vereinsamt er oder sie schnell und verpasst eine ganze Menge vom Leben.

Proaktive Strategien

Deutlich hilfreicher sind langfristig die proaktiven Strategien. Mit proaktiven Strategien kann man Ressourcen entwickeln, die einen dabei unterstützen, mit der stressigen Situation zurechtzukommen – ohne in die Reizüberflutung zu geraten und ohne aus der Situation flüchten zu müssen. Proaktive Strategien können hochsensible Menschen dabei unterstützen, resilienter gegen Stress zu werden.

Solche proaktiven Strategien werden in vielen Ratgebern beschrieben. Dazu gehört u.a., schon ein paar Stunden vor dem Schlafengehen Handy, Computer oder auch den Fernseher auszuschalten. Eine proaktive Strategie ist es auch, täglich Dinge zu tun, die einem gut tun, die einen innerlich nähren. Vielen hochsensiblen Menschen tut es z.B. gut, sich in der Natur aufzuhalten.

Auch Verfahren der Mind-Body-Medizin sind gut geeignet, langfristig Ressourcen aufzubauen, die widerstandsfähiger gegen Stress machen. Zur Mind-Body-Medizin zählen Verfahren und Techniken, die auf der Wechselwirkung von Körper und Seele aufbauen. Das sind z.B. Yoga, Qigong, autogenes Training, Tai-Chi oder Achtsamkeitsmeditation.

Unter den Mind-Body-Verfahren ist besonders die Achtsamkeitsmeditation für hochsensible Menschen hilfreich.  Sie kann Hochsensible in Situationen der Reizüberflutung dabei unterstützen, wieder ruhiger zu werden. Und vor allem hilft Achtsamkeitsmeditation auch langfristig, die Gefühlsspiralen und das viele Nachdenken zu durchbrechen, das sich bei Hochsensiblen in Stress-Situationen immer weiter aufschaukeln kann [7, 8].

Fazit

Reizüberflutung ist also eine Alarmreaktion auf das Erleben von Stress. Hochsensible Menschen geraten schnell in diesen Zustand, weil sie Reize besonders schnell wahrnehmen, besonders intensiv verarbeiten und außerdem mit ihren eigenen Gefühlen und Gedanken in Bezug auf diese Reize zurechtkommen müssen. Um Reizüberflutung besser zu bewältigen, stehen verschiedenste Coping-Strategien aus der Stressforschung zur Verfügung. Aus der Reizüberflutung herauszukommen ist dabei nur der erste Schritt. Langfristig ist es wichtig, proaktive, zukunftsgerichtete Strategien zu entwickeln und Ressourcen aufzubauen (s. auch mein Drei-Säulen-Konzept zur Unterstützung hochsensibler Menschen).

Literatur

[1] Selye H. (1956). The stress of life. New York, NY: McGraw-Hill Book Company.

[2] Lazarus, R. & Folkman, S. (1984). Stress, appraisal, and coping. New York, NY: Springer.

[3] Bakker, K., & Moulding, R. (2012). Sensory-Processing Sensitivity, dispositional mindfulness and negative psychological symptoms. Personality and Individual Differences, 53(3), 341-346.

[4] Benham, G. (2006). The highly sensitive person: Stress and physical symptom reports. Personality and Individual Differences, 40(7), 1433-1440.

[5] Blach, C., & Egger, J.W. (2014). Hochsensibilität- ein empirischer Zugang zum Konstrukt der hochsensiblen Persönlichkeit. Psychologische Medizin, 25(3), 5-16.

[6] Biggs, A., Brough, P., & Drummod, S. (2017). Lazarus and Folkman’s psychological stress and coping theory. In C. Cooper & J. Campbell (Eds.), The handbook of stress and health: A guide to research and practice  (pp. 349-364). New York: John Wiley & Sons, Ltd. https://doi.org/10.1016/S0074-6142(13)62965-4

[7] Soons, I. et al. (2010). An experimental study of the psychological impact of a mindfulness-based stress reduction program on highly sensitive persons. Europe‘s Journal of Psychology, 4, 148-169

[8] Wyller, H. et al. (2017). The relationship between sensory processing sensitivity and psychological distress: A model of underpinning mechanisms and an analysis of therapeutic possibilities. Scandinavian Psychologist, 4, e15. https://doi.org/10.15714/scandpsychol.4.e15.

Foto: eduard bei unsplash