Hochsensibilität: Körperliche Symptome

Gibt es einen Zusammenhang zwischen Hochsensibilität und körperlichen Symptomen? Zu dieser Frage gibt es bisher nur wenige Untersuchungen. Diese Studien zeigen übereinstimmend, dass hochsensible Menschen häufiger über körperliche Symptome berichten als nicht-hochsensible. Aus den Untersuchungen geht aber auch hervor, dass dies nicht für alle hochsensiblen Menschen gilt. Hochsensibilität ist also keine Krankheit. Daraus ergeben sich zugleich Ansatzpunkte, wie man das Risiko für körperliche Erkrankungen bei Menschen mit Hochsensibilität verringern kann.

Hochsensibilität: Welche körperlichen Symptome treten auf?

Die empirische Forschung zu Hochsensibilität und Erkrankungen hat sich bisher vor allem auf Zusammenhänge zwischen Hochsensibilität und psychischen Erkrankungen konzentriert (z.B. Depression oder Angststörungen)[1]. Zu Neurosensitivität und körperlichen Erkrankungen liegen dagegen bisher erst wenige Studien vor.

Diese Untersuchungen zeigen, dass hochsensible Menschen allgemein über mehr körperliche Symptome und Beschwerden berichten als nicht-hochsensible Menschen. Leider gehen die Autorinnen und Autoren dieser Studien allerdings meist nicht darauf ein, welche Beschwerden und Erkrankungen das im Einzelnen sind. [2, 3, 4]

Genauere Informationen finden sich nur zu einigen wenigen Erkrankungen. Gut belegt ist ein Zusammenhang zwischen Hochsensibilität und der Neigung zu Allergien und Unverträglichkeiten. [4] Hochsensible Menschen berichten also im Durchschnitt öfter von allergischen Beschwerden als nicht-hochsensible.

In einer Fragebogenstudie hat Michael Jawer außerdem festgestellt, dass hochsensible Menschen stärker zu Migräne, chronischer Erschöpfung, Schlafstörungen und zu Umwelterkrankungen wie Chemikaliensensitivität und Sensitivität für Elektrizität neigen. [5] Ein vermehrtes Auftreten von Atemwegserkrankungen wie etwa Asthma wurde außerdem bei Kindern festgestellt. [1]

Es ist kompliziert

Allerdings ist die Forschungslage komplizierter, als es auf den ersten Blick aussieht.

Zunächst ist zu berücksichtigen, dass Hochsensibilität aus verschiedenen Facetten besteht: [6]

  • Übererregbarkeit, d.h. die Tendenz, intensiv auf Reize zu reagieren;
  • Niedrige Schwelle für Sinnesreize, d.h. die Fähigkeit, z.B. Geräusche schon dann wahrzunehmen, wenn sie noch ganz leise sind (im Englischen: low sensory threshold);
  • Ästhetische Sensitivität, d.h. die Fähigkeit, auch feine Unterschiede wahrzunehmen, z.B. in Kunstwerken oder in der Natur.

Ein Zusammenhang zwischen körperlichen Symptomen und Hochsensibilität besteht nur für die ersten beiden Aspekte. Es berichten also nur solche hochsensiblen Menschen von mehr körperlichen Erkrankungen, die besonders intensiv auf Reize reagieren oder eine niedrige Schwelle für Sinnesreize haben. Dagegen gibt es keinen Zusammenhang zwischen ästhetischer Sensitivität und Krankheit. [1, 2, 3]

Bei Kindern hat sich gezeigt, dass nur diejenigen hochsensiblen Kinder mehr Atemwegserkrankungen aufweisen, die in einer Umgebung mit vielen Stressoren aufwachsen (z.B. Streit unter den Eltern). Kinder mit Hochsensibilität, die in einem besonders förderlichen Umfeld leben, erkranken dagegen sogar seltener als nicht-hochsensible Kinder. [1]

Diese Ergebnisse spiegeln wider, dass hochsensible Menschen besonders aufnahmefähig für ihre Umgebung sind. Der deutsch-britische Forscher Michael Pluess hat dafür den Begriff der ‚vantage sensitivity‘ geprägt: [7]

Menschen mit Hochsensibilität reagieren sowohl auf positive wie auch auf negative Umweltbedingungen stärker als solche ohne Hochsensibilität. Entsprechend wirken sich positive Faktoren auf sie besonders förderlich aus, negative Faktoren besonders hinderlich.

Man kann also nicht einfach sagen, dass es einen Zusammenhang zwischen Hochsensibilität und körperlichen Symptomen gibt. Sondern es kommt immer darauf an, welche Aspekte von Hochsensibilität bei einem Menschen besonders ausgeprägt sind und wie seine Umwelt aussieht.

Woher kommt der Zusammenhang zwischen Hochsensibilität und körperlichen Symptomen?

Woher kommt es, dass hochsensible Menschen unter bestimmten Bedingungen vermehrt von körperlichen Erkrankungen berichten? Dafür gibt es mehrere mögliche Erklärungen. [1]

Erstens muss man sich klarmachen, dass Forscher_innen sich keine Arztberichte angesehen haben. Sie haben sich also nicht angeschaut, welche Erkrankungen bei hochsensiblen Menschen vorliegen. Sondern sie haben Menschen mit Hochsensibilität gefragt, welche Symptome sie haben.

Es kann also sein, dass hochsensible Menschen sich selber viel genauer beobachten als noch-hochsensible. Vielleicht haben sie z.B. gar nicht öfter Kopfschmerzen als Menschen, die nicht hochsensibel sind – sondern sie merken es nur schneller. Das macht ja auch Sinn, wenn man sich überlegt, dass eine niedrige Schwelle für Sinnesreize und Übererregbarkeit mit körperlichen Symptomen bei Hochsensiblen in Zusammenhang stehen.

Zweitens geben Menschen mit Hochsensibilität häufiger an, dass sie sich gestresst fühlen. Und in der Tat finden sich bei ihnen auch höhere Werte des Stresshormons Cortisol. Dieses wirkt sich wiederum negativ auf das Immunsystem aus: Wer viel Cortisol im Blut hat, wird schneller krank.

Das ist also eine weitere mögliche Erklärung für den Zusammenhang zwischen Hochsensibilität und körperlichen Symptomen: Hochsensible Menschen sind vielen Reizen ausgesetzt, fühlen sich dadurch stärker gestresst und produzieren mehr Cortisol. Dadurch wird ihr Immunsystem anfälliger für Erkrankungen.

Drittens wurde bei hochsensiblen Menschen – vor allem solchen mit niedriger Reizschwelle und mit Übererregbarkeit – vermehrt Ängstlichkeit und eine Neigung zu Depressionen festgestellt. [1]

Das bedeutet, dass Personen mit diesen Merkmalen schnell in eine ‚Grübelspirale‘ geraten. Sie merken schneller, wenn etwas nicht stimmt. Es wird ihnen schnell etwas zuviel. Darauf reagieren sie ängstlich, machen sich viele Gedanken. Dadurch steigt ihr Stresserleben noch weiter an… Die zweite und die dritte Erklärung greifen hier also ineinander.

Das Risiko für körperliche Erkrankungen senken

Wie können hochsensible Menschen das Risiko für körperliche Symptome senken (s. auch das Drei-Säulen-Behandlungskonzept)?

Eine erste Strategie besteht darin, sich die Ansprechbarkeit für förderliche Umweltbedingungen zunutze zu machen. Das bedeutet z.B., täglich Tätigkeiten nachzugehen, die einem gut tun. Viele hochsensible Menschen empfinden etwa den Aufenthalt in der Natur als hilfreich.

Zweitens können hochsensible Menschen lernen, mit Stress anders umzugehen und so ihr Risiko für körperliche Symptome zu vermindern. Man versucht, den Stress zu senken, bevor er sich aufbauen und negativ auf die Gesundheit auswirken kann. Es gibt beispielsweise Untersuchungen, die zeigen, dass Achtsamkeitsmeditation Hochsensible dabei unterstützen kann, die ‚Grübelspirale‘ zu durchbrechen.

Drittens gibt es in der Alternativmedizin Vorschläge dafür, wie hochsensible Menschen die Übererregbarkeit und damit auch ihr Risiko für körperliche Symptome senken können. Aus der Pflanzenheilkunde spielen hier beispielsweise sog. Adaptogene eine Rolle, etwa Rhodiola oder Ashwaganda. In der Klassischen Homöopathie gibt es ebenfalls Mittel, die zum Schutz gegen Außenreize beitragen können. Diese sind allerdings immer individuell auszuwählen.

Literatur

[1] Jagiellowicz, J. et al. 82020). Health and social outcomes in highly sensitive persons. In B. Acevedo (Hrsg.), The highly sensitive brain (S. 75-108). London: Academic Press.

[2] Ahadi, B. & Bashapoor, S. (2020). Relationship between sensory processing sensitivity, personality dimensions, and mental health. Journal of Applied Sciences, 10, 570-574.

[3] Benham, G. (2006). The highly sensitive person: Stress and symptom reports. Personality and Individual Differences, 40, 1433-1440.

[4] Blach, Ch. & Egger, J.W. (2014). Hochsensibilität – ein empirischer Zugang zum Konstrukt der hochsensiblen Persönlichkeit. Psychologische Medizin, 25, 4-16.

[5] Jawer, M. (2006). Environmental sensitivity: Inquiry into a possible link with apparitional experience. Journal of the Society for Psychical Research, 70, 25-45.

[6] Evans, D. & Rothbart, M. (2008). Temperamental sensitivity: Two constructs or one? Personality and Individual Differences, 44, 108-118.

[7] Pluess, M. & Belsky, J. (2013). Vantage sensitivity: Individual differences in response to positive experiences. Psychological Bulletin, 139, 901-916.

Leave a reply