Atmen gegen Stress

Atmen – wir tun es wortwörtlich von unserem ersten bis zum letzten Atemzug. Atmen ist für uns so selbstverständlich, dass wir uns oft gar nicht darüber im Klaren sind, dass unsere Atmung noch viel mehr kann, als uns mit Sauerstoff zu versorgen. Atmen, wenn wir es richtig einsetzen, ist auch ein sehr wirksames Mittel gegen Reizüberflutung, Angst und Stress. Und es ist ein Mittel, das das wir immer dabei haben, das uns jederzeit zur Verfügung steht.

Um das zu erklären, muss ich etwas weiter ausholen und zunächst die Rolle des autonomen Nervensystems in Stress-Situationen genauer beschreiben. Danach erläutere ich, wie wir das autonome Nervensystem und damit unser Stresserleben durch die Atmung beeinflussen können, welche Atemtechniken hier hilfreich sind und wie wir sie am besten praktizieren.

Stress, Atmen  und das autonome Nervensystem

Stress und Stresserleben

Wir alle kennen Stress-Situationen: Wir sind angespannt, das Herz schlägt schneller, vielleicht bricht uns der Schweiß aus. Gestresst fühlen wir uns immer dann, wenn wir den Eindruck haben, dass die Anforderungen einer Situation unsere Bewältigungsmöglichkeiten übersteigen.

Gerade hochsensible Menschen sind besonders anfällig für Stress: Ihre Reizschwelle ist niedrig, sie nehmen ihre Umwelt intensiv wahr, und sie verarbeiten Eindrücke aus der Umwelt besonders gründlich. Wenn die Eindrücke zu viel und zu intensiv werden, kommt es zum Zustand der Reizüberflutung, der eine Form von Stress darstellt.

Stress ist etwas, das wir innerlich fühlen – daher auch der Begriff ‚Stresserleben‘. Zugleich zeigt Stress sich immer auch körperlich, z.B. am schnelleren Herzschlag, Puls oder einem Schweißausbruch. All dies sind Zeichen dafür, dass der sympathische Teil unseres autonomen Nervensystems aktiviert ist.

Das autonome Nervensystem

Anders als unser zentrales Nervensystem, das für unser Denken, unsere Gefühle und unsere Motorik ‚zuständig‘ ist, funktioniert das autonome Nervensystem weitgehend unabhängig von unserer willentlichen Beeinflussung. Und das ist auch gut so, denn es steuert wesentliche Körperfunktionen, die nötig sind, um uns am Leben zu erhalten, u.a. Herzschlang und Blutdruck [1].

Das autonome Nervensystem besteht aus zwei Teilen: dem Sympathikus und dem Parasympathikus. Der sympathische Teil des autonomen Nervensystems wird aktiviert, wenn wir uns einer Herausforderung gegenübersehen: Das Herz schlägt schneller, der Blutdruck steigt, wir atmen schneller, und Blut wird von den Verdauungsorganen abgezogen und in die Muskeln gepumpt. Die Aktivierung des Sympathikus bewirkt also, dass wir in Gefahrensituationen schnell handeln können, z.B. kämpfen oder weglaufen.

Der parasympathische Teil des autonomen Nervensystems ist sozusagen der Gegenspieler des Sympathikus. Wenn das parasympathische Nervensystem aktiviert ist, schlägt das Herz langsamer, das Atmen wird langsamer, der Blutdruck sinkt. Blut wird aus den Muskeln abgezogen und ins Verdauungssystem gelenkt.

Mit dem Atmen das autonome Nervensystem beruhigen

Atmen und das autonome Nervensystem

Die Steuerung des autonomen Nervensystems erfolgt in sehr komplexen Regelkreisen über die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinde-Achse, auch Stressachse genannt. Dabei spielen u.a. die Hormone Adrenalin und Cortisol eine wichtige Rolle.

Diese Regelkreise können wir willentlich meist nicht beeinflussen. Es gibt allerdings eine Ausnahme: das Atmen. Wie oben beschrieben, wirkt das autonome Nervensystem u.a. auf das Herz-Kreislaufsystem, das Verdauungssystem und auf unsere Atmung ein.

Und alle diese Systeme stehen untereinander in Zusammenhang. Außerdem verlaufen Verbindungen nicht nur von den Nerven des autonomen Nervensystems zu den verschiedenen Organsystemen, sondern auch Verbindungen von den Organsystemen zum autonomen Nervensystem.

Indem wir unsere Atmung verändern, können wir daher auch gezielt das sympathische oder das parasympathische Nervensystem aktivieren. Welche Mechanismen dabei genau in unserem Körper ablaufen, ist noch nicht ganz geklärt [2].

Es gibt aber viele wissenschaftliche Studien, die zeigen, dass dies möglich ist. Durch die entsprechenden Atemtechniken fühlen wir uns nicht nur weniger gestresst und spüren weniger Angst. Sondern es zeigt sich auch, dass z.B. die Konzentration des Stresshormons Cortisol sinkt [3].

Solche Atemtechniken gehen auf altes Wissen zurück. Einige sind beispielsweise Teil des Yoga (die sog. Pranayama-Übungen), des Tai chi und verschiedener Meditationstechniken.

In wissenschaftlichen Studien sich vor allem die folgenden Atemtechniken als wirksam bei Stress und Angstzuständen erwiesen. Außerdem sind sie leicht zu erlernen.

Erste Atemtechnik: Verlängertes Ausatmen

Diese Möglichkeit, durch das Atmen direkt auf das autonome Nervensystem einzuwirken, können wir uns ganz einfach veranschaulichen: Atmen Sie mehrmals nacheinander lange ein und kurz aus. Machen Sie eine Pause und atmen Sie dann mehrmals nacheinander kurz ein und lange aus.

Vermutlich stellen Sie dabei fest, dass Sie beim langen Einatmen in eine Art aufgeregtes Hecheln verfallen, während sich beim langen Ausatmen ein Gefühl von Loslassen und Entspannung einstellt. Darin spiegelt sich wider, dass wir mit der Einatmung den Sympathikus aktivieren, mit der Ausatmung dagegen den Parasympathikus [4].

Daraus leitet sich dann auch ganz unmittelbar eine erste Atemtechnik her, mit der wir uns in Stress-Situationen beruhigen können, nämlich bewusst länger aus- als einzuatmen. Idealerweise ist die Ausatmung dabei etwa doppelt so lang wie die Einatmung, also beispielsweise 2 Sekunden einatmen und 4 Sekunden ausatmen, oder 3 Sekunden einatmen und 6 Sekunden ausatmen usw.

Eine Variante dieser Technik des Atmens besteht darin, auch die Pause zwischen Ein- und Ausatmen mit einzubeziehen, etwa in der 4-7-8-Technik: Man atmet 4 Sekunden lang ein, hält den Atem für 7 Sekunden an und atmet dann 8 Sekunden lang aus.

Zweite Atemtechnik: Zwerchfellatmung

Eine zweite Möglichkeit, durch die Atmung den Parasympathikus zu aktivieren, besteht in der Steuerung der Tiefe unserer Atemzüge. Gerade, wenn wir uns gestresst fühlen (aber nicht nur dann), atmen wir eher flach und nutzen dabei nur den oberen Teil unserer Atemorgane (die sog. Lungenatmung). Wenn wir dagegen gezielt tief in den Bauch hinein atmen und dabei unser Zwerchfell einsetzen, dann aktivieren wir – vermutlich vermittelt über die Zwerchfellmuskulatur – den Parasympathikus [5].

Für die Zwerchfellatmung legen Sie sich flach hin und atmen Sie durch die Nase ein. Dabei legen Sie eine Hand auf den Bauch. Atmen Sie so, dass sich der Bauch beim Einatmen nach oben wölbt: Sie führen also beim Einatmen die Hand auf dem Bauch mit der Atembewegung nach oben. Atmen Sie nun durch die leicht geöffneten Lippen aus. Dabei senken sich der Bauch und die Hand auf dem Bauch wieder in die Ausgangsposition. Bewegen Sie den Brustkorb dabei so wenig wie möglich.

Dritte Atemtechnik: Kohärentes Atmen

Auch die Länge unserer Atemzüge hat einen Einfluss auf das autonome Nervensystem. Als optimal hat sich dabei eine Dauer von etwa 5.5 Sekunden sowohl beim Ein- als auch beim Ausatmen erwiesen. Man macht also pro Minute etwa 5 bis 6 Atemzüge, ohne Pause zwischen Ein- und Ausatmung [6].

Es kommt nicht darauf an, dass es genau jeweils 5 oder 6 Atemzüge sind. Wichtig ist nur, dass es höchstens 8 Atemzüge pro Minute sind und dass Ein- und Ausatmung gleich lang sind.

Diese Atmung wird kohärentes Atmen genannt, weil dabei verschiedene Körperrhythmen sozusagen in einen Gleichklang kommen: Atmung, Herzschlag, Blutdruck und auch Gehirnwellen.

Weitere Atemtechniken

Neben den hier beschriebenen Atemtechniken gibt es noch viele andere. Dazu zählen u.a. die schon genannten Pramayama-Übungen, insbesondere die sog. Ujjiyai-Atmung (auch Meeresrauschen-Atmung genannt), die Wim Hof-Methode, die Buteyko-Atmung oder das holotrope Atmen [7].

Auch diese Atemtechniken sind sehr wirkungsvoll. Allerdings sind sie deutlich komplexer als die hier dargestellten Übungen. Sie bringen den Körper teilweise an seine Grenzen, sind anstrengend und sollten nur unter Anleitung erlernt werden. Deswegen gehe ich auf diese Techniken hier nicht ein.

Auch gibt es eine Vielzahl weiterer Atemtechniken, die gezielt auf bestimmte Organe und Organsysteme einwirken sollen. Auch auf solche Techniken gehe ich hier nicht ein, weil in diesem Beitrag speziell das Atmen in Situationen von Angst, Stress und Überreizung im Mittelpunkt steht.

Atmen und autonomes Nervensystem in der Praxis

Wie oft muss ich das Atmen üben?

Die beschriebenen Atemtechniken sind sowohl bei Dauerstress und generalisierter Angst wirksam wie auch in akuten Angst- und Stress-Situationen.

Am besten wirken sie, wenn man sie regelmäßig anwendet. Das bedeutet, dass man am besten 10 Minuten am Tag übt – je länger, desto besser. Direkt nach dem Aufwachen oder vor dem Einschlafen sind gute Zeiten. Außerdem kann man in den verschiedensten Situationen kontrolliert atmen, ohne dass andere es bemerken: in der U-Bahn, in einem Meeting, beim Kochen oder beim Spazierengehen mit dem Hund.

Das tägliche Üben hat zwei Vorteile. Erstens verinnerlicht man die Atemtechniken dadurch und muss nicht erst lange überlegen, wenn man anfangen will. Und wenn man gerade akut im Stress ist, fällt das Überlegen sowieso schwer. Wenn man regelmäßig übt, hat man die Atemtechnik im Notfall also schon parat.

Außerdem wirken die Übungen auch insgesamt stabilisierend. Wenn man die Übungen also regelmäßig ausführt, gerät man auf Dauer nicht mehr so oft in Stress und Überreizung.

In akuten Angst- und Stress-Situationen sollte man auch jeweils 5-10 Minuten am Stück atmen. Mit zwei oder drei Atemzügen ist es nicht getan. Nach fünf Minuten fühlt man sich dafür aber auch deutlich ruhiger.

Wie lerne ich die Atemtechniken am besten?

Eigentlich sind die Techniken recht einfach und können ohne weitere Anleitung erlernt werden.

Gerade das längere und tiefere Atmen ist aber für uns in der Alltagshektik oft ungewohnt – schon 5 Sekunden Ein- oder Ausatmen können uns lange vorkommen. In diesem Fall können wir uns selber langsam an die längeren und tieferen Atemzyklen heranführen: Wir fangen mit kürzeren Atemzügen an und steigern die Länge dann allmählich.

Beim kohärenten Atmen kann das z.B. bedeuten, dass wir zunächst 3 Sekunden lang ein- und ausatmen, dann 4 Sekunden usw. Beim verlängerten Ausatmen können Sie beispielsweise mit 2 Sekunden Einatmen anfangen, 3 Sekunden den Atem anhalten und 4 Sekunden ausatmen.

Wenn Sie trotzdem gerne mehr Unterstützung hätten, dann finden Sie unter den verfügbaren Apps (sowohl für Android als auch für Apple) und auf YouTube vielfältige Möglichkeiten.

Mit der App Paced Breathing können Sie z.B. die Dauer des Einatmens, des Ausatmens und der Pausen zwischen Ein- und Ausatmung jeweils beliebig einstellen, ebenso die Dauer der Übung. Ein- und Ausatmung werden dabei (je nach Einstellung) durch Bewegung auf dem Bildschirm und durch Tonsignale unterstützt. Das kann gerade anfangs hilfreich sein, solange man noch kein richtiges Gefühl für die Dauer von 4 oder 5 Sekunden hat.

Bei anderen Apps sind die Intervalle (Einatmung, Ausatmung, Pausen) schon voreingestellt. Schauen Sie einfach im App oder im Play Store unter den Stichwörtern Atmen, Atmung oder auch Angst.

Speziell für das kohärente Atmen gibt es online schöne Unterstützungsangebote, so z.B. auf der Webseite des ‚Entdeckers‘ der kohärenten Atmung, Stephen Elliott. Die meisten sind kostenpflichtig, aber es sind auch kostenfreie verfügbar.

Eine Kombination von kohärentem Atmen und Meditation bieten Dr. Richard Brown und Dr. Patricia Gerbarg an, die auch viel zu dem Thema geforscht haben.

Fazit

Mit dem Atmen haben wir eine Möglichkeit, direkt auf unser autonomes Nervensystem einzuwirken und den parasympathischen Teil zu aktivieren. Atemtechniken haben sich als sehr wirksam erwiesen, um Stress und das Stresserleben zu senken, vor allem die verlängerte Ausatmung, die Zwerchfellatmung und das kohärente Atmen. Die Techniken sind leicht zu erlernen. Sie stellen daher eine gute Möglichkeit dar, um unser Nervensystem in Situationen von Stress, Angst und Reizüberflutung zu beruhigen.

Literatur

[1] Birbaumer, Niels (2010). Autonomes Nervensystem. In Niels Birbaumer & Robert Schmidt, Biologische Psychologie (S. 101-116). Springer.

[2] Bordoni, Bruno et al. (2018). The Influence of Breathing on the Central Nervous System. Cureus, Jun 1;10(6):e2724. doi: 10.7759/cureus.2724. PMID: 30083485; PMCID: PMC6070065.

[3] Brown, Richard & Gerbarg, Patricia (2012). The healing power of the breath. Shambhala.

[4] Van Diest, Ilse et al. (2014). Inhalation/exhalation ratio modulates the effect of slow breathing on heart rate variability and relaxation. Appl Psychophysiol Biofeedback, 39(3),171–180. https://doi.org/10.1007/s10484-014-9253-x.

[5] Hopper, Susan I. et al. (2017). Effectiveness of diaphragmatic breathing for reducing physiological and psychological stress in adults: A quantitative systematic review. JBI Evid. Synth., 17, 1855–1876. https://doi.org/10.11124/jbisrir-2017-003848.

[6] Zaccaro, Andrea et al. (2018) How breath-control can change your life: A systematic review on psycho-physiological correlates of slow breathing. Front. Hum. Neurosci. 12, 353. doi: 10.3389/fnhum.2018.00353.

[7] Nestor, James (2021). Breath – Atem. Neues Wissen über die vergessene Kunst des Atmens. Piper.

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