Welcher Hochsensibilitäts-Typ bin ich? Als Elaine Aron ihren Fragebogen zur Hochsensibilität entwickelte, nahm sie an: Entweder man ist hochsensibel oder man ist es nicht.
Die Forschung hat jedoch in den letzten Jahren gezeigt, dass es so einfach nicht ist. Zum Beispiel gibt es verschiedene Bereiche von Hochsensibilität.
Eine ganz neue Studie aus Deutschland hat nun ergeben, dass sich in der Tat zwei Typen von Hochsensibilität und von hochsensiblen Menschen unterscheiden lassen. Die beiden Typen zeigen außerdem jeweils ein unterschiedliches Persönlichkeitsprofil. [1]
Die Teilbereiche der Hochsensibilität
Eine ganze Reihe von Untersuchungen hat gezeigt, dass es drei verschiedene Teilbereiche von Hochsensibilität gibt: Leichte Erregbarkeit, Niedrige Reizschwelle und Ästhetische Sensitivität [2, 3].
- Leichte Erregbarkeit bezieht sich darauf, wie intensiv unser Nervensystem auf Reize und Situationen aller Art reagiert. Man könnte auch sagen: Mit Leichter Erregbarkeit ist gemeint, wie schnell und wie stark wir uns anspannen und nervös werden, z. B. wenn uns jemand beobachtet oder wenn wir mehrere Dinge gleichzeitig tun sollen.
- Niedrige Reizschwelle: Menschen haben eine niedrige Reizschwelle, wenn sie Sinnesreize schon ab einer geringen Intensität wahrnehmen. Eine niedrige Reizschwelle kann sich auf einzelne Sinneskanäle beziehen: Manche Menschen reagieren vielleicht besonders schnell auf Licht, andere nehmen schon ganz leise Geräusche oder ganz feine Gerüche war. Die Reizschwelle kann für einzelne Sinne besonders ausgeprägt sein oder für alle Sinne gelten.
- Ästhetische Sensitivität: In diesem Teilbereich sind verschiedene Formen von feiner Wahrnehmung zusammengefasst. Ästhetische Sensitivität kann sich darauf beziehen, dass jemand ein Gemälde, ein Gedicht oder ein Musikstück intensiv wahrnimmt und genießt. Aber auch die Fähigkeit, die Stimmungen anderer Menschen zu erspüren, wird hier eingeordnet.
Diese drei Bereiche von Hochsensibilität sind auch in der deutschen Fassung des Fragebogens von Elaine Aron enthalten und erfasst, dem HSPS-G (Highly Sensitive Person Scale – German). [4]
Inzwischen liegen für die deutsche Fassung sogar Normwerte vor, sowohl für den Gesamtwert als auch für die drei Bereiche. Das bedeutet, dass man bestimmen kann, wie man bei dem Test selbst im Vergleich zur Bevölkerung insgesamt abschneidet. [5]
Hochsensibilität und Persönlichkeit
In der psychologischen Forschung wird zur Beschreibung von Persönlichkeitsmerkmalen oft das Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit verwendet. [6]
Das Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit
In diesem Modell werden fünf Persönlichkeitsdimensionen unterschieden. Jede der Persönlichkeitsdimensionen lässt sich außerdem durch je sechs Facetten genauer beschreiben. [7]
- Neurotizismus: Diese Dimension besagt, wie stark ein Mensch zu Ängstlichkeit und zu Depressionen neigt. Sie beinhaltet die folgenden Facetten: Ängstlichkeit, Reizbarkeit, Depression, geringes Selbstbewusstsein, Impulsivität sowie Verletzlichkeit bzw. geringe Resilienz.
- Extraversion: Diese Dimension bezieht sich darauf, wie gesellig ein Mensch ist. Dazu gehören die folgenden Facetten: Herzlichkeit / Freundlichkeit, Geselligkeit, Durchsetzungsfähigkeit, Aktivität, Erlebnishunger und Frohsinn.
- Offenheit: Darunter versteht man die Offenheit für Erfahrungen, Menschen und andere Kulturen. Als Facetten sind hier aufgeführt: Offenheit für Fantasie, Ästhetik und Kunst, Gefühle, Abwechslung, Ideen sowie andere Werte.
- Soziale Verträglichkeit: Soziale Verträglichkeit bezieht sich darauf, wie sehr einem Menschen an Harmonie mit anderen gelegen ist und wie freundlich er anderen gegenüber ist. Es werden die folgenden Facetten unterschieden: Vertrauen, Ehrlichkeit und Moral, Altruismus und Uneigennützigkeit, Entgegenkommen, Bescheidenheit, Gutherzigkeit und Sympathie.
- Gewissenhaftigkeit: Darunter versteht man, mit wie viel Planung und Selbstdisziplin jemand an Aufgaben herangeht. Die Facetten dieser Persönlichkeitsdimension beinhalten Kompetenz, Ordnungsliebe, Pflichtbewusstsein, Leistungsorientierung, Selbstdisziplin, Besonnenheit.
Für jeden Menschen lässt sich an Hand dieser Persönlichkeitsdimensionen ein individuelles Profil erstellen. Die Beschreibung der Persönlichkeit ist noch genauer, wenn statt der Dimensionen die einzelnen Facetten herangezogen werden.
Zusammenhänge zwischen Hochsensibilität und Persönlichkeit
Im Laufe der Jahre wurden immer wieder Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Hochsensibilität und den fünf Persönlichkeitsdimensionen sowie anderen Persönlichkeitsmerkmalen durchgeführt.
Am ergiebigsten waren solche Studien, bei denen nicht der Gesamtwert für Hochsensibilität verwendet wurde, sondern die Werte für die drei Teilbereiche. Es wurde also z. B. geprüft, ob Menschen mit einer niedrigen Reizschwelle auch hohe Werte für Neurotizismus oder für Extraversion aufweisen.
Dabei hat sich gezeigt, dass hohe Werte für die Teilbereiche Leichte Erregbarkeit und Niedrige Reizschwelle mit hohen Werten für Neurotizismus, negative Gefühlslage, Stressempfinden und auch Gesundheitsproblemen einhergehen. [8, 9, 10]
Eine hohe Ausprägung von Ästhetischer Sensitivität geht dagegen mit hohen Werten für positive Gefühlslage, Offenheit und Wohlbefinden einher. [8, 9, 10]
Diese Ergebnisse legen nahe, dass Hochsensibilität nicht gleich Hochsensibilität ist. Vielmehr kann man vermuten, dass es unterschiedliche Typen von Hochsensibilität gibt, je nach persönlichen Werten für die Teilbereiche der Leichen Erregbarkeit, Niedrigen Reizschwelle und Ästhetischen Sensitivität.
Welcher Hochsensibilitäts-Typ bin ich? Die zwei Typen
In der Tat haben Marcus Bürger und seine Kollegen in ihrer Forschung zwei Typen hochsensibler Menschen gefunden. Diese beiden Typen unterscheiden sich, wie vermutet, in ihren Werten für die drei Teilbereiche der Hochsensibilität. Außerdem haben sie auch je verschiedene Persönlichkeitseigenschaften. [1]
Typ 1: Die Risiko-Gruppe
Die erste Gruppe bezeichne ich hier als die Risiko-Gruppe der Hochsensiblen (im englischen Original: vulnerable sensitivity group).
Menschen in dieser Gruppe weisen hohe Werte in den Teilbereichen Leichte Erregbarkeit und Niedrige Reizschwelle auf. Sie reagieren also schnell mit Anspannung und nehmen beispielsweise schon sehr leise Geräusche oder leichte Düfte wahr.
Ihre Ästhetische Sensitivität ist höher als die der Allgemeinbevölkerung, aber nicht so hoch ausgeprägt wie ihre Leichte Erregbarkeit und ihre Niedrige Reizschwelle. Ihr hoher Gesamtwert für Hochsensibilität wird damit in erster Linie von den eher negativen Aspekten des Persönlichkeitsmerkmals bestimmt: niedrige Reizschwelle in Kombination mit der Tendenz, mit Anspannung zu reagieren.
Menschen in dieser Gruppe weisen außerdem hohe Werte für fast alle Facetten von Neurotizismus auf. Sie sind also ängstlicher, reizbarer und verletzlicher als die Gesamtbevölkerung. Sie neigen zur Depression und haben ein eher geringes Selbstbewusstsein. Nur die Impulsivität ist bei ihnen als einzige Facette von Neurotizismus nicht sonderlich ausgeprägt.
Demgegenüber schneiden sie in Bezug auf Extraversion in drei Bereichen deutlich geringer ab als der Durchschnitt: Geselligkeit, Aktivität und Erlebnishunger / Frohsinn sind bei ihnen geringer ausgeprägt.
Offen sind sie insbesondere für Fantasie, Ästhetik und Gefühle, während der Erlebnishunger bei ihnen unterdurchschnittlich ausfällt.
Auch für die soziale Verträglichkeit zeigt sich ein differenziertes Bild: Ehrlichkeit / Moral, Bescheidenheit, Gutherzigkeit / Sympathie sind bei den Menschen dieses ersten Typs besonders hoch ausgeprägt. Für Vertrauen in anderen fallen ihre Werte dagegen unterdurchschnittlich aus.
Für das Persönlichkeitsmerkmal der Gewissenhaftigkeit erreichen sie meist durchschnittliche Werte. Nur die Werte für die Facette der Besonnenheit liegen im überdurchschnittlichen, die Werte für Kompetenz dagegen im unterdurchschnittlichen Bereich.
Typ 2: Die zuversichtliche Gruppe
Die zweite Gruppe wird von Bürger und seinen Kollegen als zuversichtliche Sensibilitäts-Gruppe bezeichnet (im Englischen: vulnerable sensitivity group). Diese Gruppe ist nur etwa halb so groß wie die Risiko-Gruppe.
Bei Menschen in dieser Gruppe ist die Ästhetische Sensitivität besonders hoch ausgeprägt. Ihre Werte für Leichte Erregbarkeit und Niedrige Reizschwelle liegen zwar auch über dem Durchschnittswert für die Bevölkerung, aber sind insgesamt geringer im Vergleich zur Ästhetischen Sensitivität.
Die Menschen in dieser Gruppe zeichnen sich außerdem durch überdurchschnittlich hohe Werte für Extraversion aus, und zwar insbesondere bei den Facetten Herzlichkeit, Aktivität und Frohsinn.
Bei der Persönlichkeitsdimension der Offenheit sind in erster Linie die Offenheit für Fantasie, Ästhetik / Kunst sowie Gefühle sonders stark ausgeprägt.
Bei der sozialen Verträglichkeit weisen Menschen in dieser zweiten Gruppe für die Facetten Altruismus sowie Gutherzigkeit / Sympathie überdurchschnittlich hohe Werte auf.
Auf der Persönlichkeitsdimension der Gewissenhaftigkeit fallen besonders die hohen Werte für Kompetenz und Leistungsorientierung ins Auge.
Bei den Facetten von Neurotizismus fallen die Werte der Menschen in dieser Gruppe durchschnittlich aus. Sie sind also beispielsweise nicht besonders ängstlich oder reizbar und neigen auch nicht mehr als andere Menschen zur Depression.
Die beiden Typen im Vergleich
Ein erster Blick auf die beiden Profile zeigt deutliche Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten, beispielsweise bei der Offenheit.
Um Unterschiede noch genauer herauszuarbeiten, haben die Forscher die beiden Gruppen auch statistisch miteinander verglichen.
Hochsensibilität
In Bezug auf Hochsensibilität unterscheiden die beiden Gruppen sich hauptsächlich im Hinblick auf Leichte Erregbarkeit und Ästhetische Sensitivität. Charakteristisch für Typ 1 sind die hohen Werte bei der Leichten Erregbarkeit, für Typ 2 die hohen Werte bei der Ästhetischen Sensitivität.
Neurotizismus
Auch bezüglich Neurotizismus zeigen sich deutliche Unterschiede. Personen von Typ 1 erreichen auf praktisch allen Facetten deutlich höhere Werte, ganz besonders bei Verletzlichkeit. Personen von Typ 1 können somit besonders schlecht mit Druck umgehen. Die Werte der Personen des Typs 2 unterscheiden sich dagegen nicht von denen der Gesamtbevölkerung. Lediglich die Impulsivität ist bei beiden Gruppen nicht stark ausgeprägt.
Extraversion
Ebenso ergeben sich für fast alle Facetten von Extraversion klare Unterschiede zwischen den beiden Typen, wobei die verschiedenen Aspekte der Extraversion bei hochsensiblen Menschen vom Typ 2 höher ausgeprägt sind. Sie neigen mehr zur Herzlichkeit, Geselligkeit, zu Aktivitäten, zeigen mehr Frohsinn und können sich besser durchsetzen. Lediglich der Erlebnishunger ist bei beiden Typen niedrig.
Offenheit
Die Ergebnisse für die Persönlichkeitsdimension der Offenheit sind weitgehend mit denen für Extraversion vergleichbar. Auch hier erzielen hochsensible Menschen vom Typ 2 fast durchgängig höhere Werte. Besonders stark ausgeprägt ist dies bei der Facette der Offenheit für Abwechslung. Menschen des Typs 2 sind deutlich offener dafür, auch einmal etwas Neues auszuprobieren. Weitgehend vergleichbar sind die beiden Typen nur bezüglich der Offenheit für Fantasie.
Soziale Verträglichkeit
Im Hinblick auf die soziale Verträglichkeit gibt es zwischen den beiden Typen keine großen Unterschiede. Hochsensible Menschen des Typs 2 sind etwas stärker bereit, anderen Menschen zu vertrauen. Hochsensible Menschen des Typs 1 erzielen etwas höhere Werte bei Ehrlichkeit / Moral und bei Bescheidenheit. Aber diese Unterschiede sind, wie gesagt, nicht stark ausgeprägt.
Gewissenhaftigkeit
Auch für die verschiedenen Facetten von Gewissenhaftigkeit zeigen sich wieder Unterschiede zwischen den Typen. Kompetenz, Leistungsorientierung und Selbstdisziplin sind bei den hochsensiblen Menschen des Typs 2 stärker ausgeprägt. Hochsensible Menschen des Typs 1 weisen dagegen höhere Werte bei Besonnenheit auf, machen sich also mehr Gedanken, bevor sie handeln.
Welcher Hochsensibilitäts-Typ bin ich – ist das wichtig?
Die Beschreibungen der beiden Typen zeigen: Hochsensible Menschen vom Typ 1 tun sich mit ihrer Hochsensibilität schwer. Sie sind häufig angespannt, erleben ihre niedrige Reizschwelle und die vielen Reize eher als belastend. Zwar sind sie auch in der Lage, ihre feine Wahrnehmung zu genießen. Aber für sie ist die Hochsensibilität mehr eine Belastung als eine Bereicherung.
Dadurch erleben Hochsensible des Typs 1 auch mehr Stress in ihrem Alltag. Stress wirkt sich wiederum negativ auf die Gesundheit aus. So erklären sich auch die Zusammenhänge, die zwischen Leichter Erregbarkeit und gesundheitlichen Problemen gefunden wurden.
Für Menschen des Typs 1 kann ihre Hochsensibilität daher zu einem Risiko werden. Umso wichtiger ist es, schon frühzeitig gegenzusteuern. Wenn man weiß, dass man zu Typ 1 gehört, kann man umso mehr darauf achten, dass man Strategien erlernt, um in Stress-Situationen die eigene Belastung zu verringern. Dazu gehören beispielsweise Achtsamkeitsmeditation, die Emotional Freedom Technique (Klopfakupressur) oder verschiedene andere Entspannungstechniken. Bachblüten und Homöopathie können zusätzlich dazu beitragen, hochsensible Menschen wieder ins innere Gleichgewicht zu bringen.
Bei hochsensiblen Menschen vom Typ 2 kann es dagegen vorkommen, dass sie sich fragen, ob sie überhaupt hochsensibel sind. Sie wissen zwar, dass sie über feine Antennen verfügen, aber sie empfinden ihre intensive Wahrnehmung nicht als belastend. Und sie geraten seltener in Situationen, in denen ihnen alles zu viel wird und sie Rückzug brauchen.
Für Hochsensible des Typs 2 kann es daher wichtig sein, sich überhaupt darüber klar zu werden, dass sie hochsensibel sind. Darauf aufbauend können sie ihre Stärken noch besser nutzen und ein Gefühl dafür entwickeln, wann auch sie an ihre hochsensiblen Grenzen kommen.
Welcher Hochsensibilitäts-Typ bin ich? Offene Fragen
Die Erkenntnis, dass es unterschiedliche Typen von Hochsensibilität gibt, ist in der Forschung noch recht neu. Wie das in der Wissenschaft meist der Fall ist, ergeben sich aus einer neuen Erkenntnis jedoch gleich wieder neue Fragen, z. B. die folgenden.
Gibt es einen Typ 3?
Diese Frage ist mir als erstes in den Sinn gekommen. Typ 1 weist hohe Werte für Leichte Erregbarkeit und Niedrige Reizschwelle auf und leicht überdurchschnittliche für Ästhetische Sensitivität. Für Typ 2 sind hohe Werte für Ästhetische Sensitivität charakteristisch und leicht überdurchschnittliche Werte für Leichte Erregbarkeit und Niedrige Reizschwelle.
Aber gibt es nicht auch Menschen, deren Werte in allen drei Teilbereichen von Hochsensibilität hoch ausfallen? Entspricht das nicht eigentlich dem, was wir uns unter einem hochsensiblen Menschen vorstellen? Jemand, der – oder die – Reize schnell wahrnimmt, dessen Nervensystem schnell stark reagiert – und zugleich die eigene feine Wahrnehmung auch genießen kann, in der Natur, mit anderen Menschen oder in der Kunst?
Aus meiner eigenen Praxis und Testung hochsensibler Menschen weiß ich, dass diese Form der Hochsensibilität ebenfalls existiert. Und die Arbeiten von Véronique de Gucht und ihrem Team weisen ebenfalls in diese Richtung. [11] Auch Bürger und seine Kollegen gehen zunächst davon aus, dass es diesen Typ gibt. Aber sie können ihn in ihren Daten nicht finden.
Das kann einfach daran liegen, dass dieser Typ vergleichsweise selten ist. Bürger und seine Kollegen haben die Gesamtbevölkerung in ihre Untersuchung einbezogen, also auch Menschen mit niedriger oder durchschnittlicher Sensibilität. Die Gruppe hochsensibler Menschen war also sowieso schon vergleichsweise klein.
Hier braucht es also weitere Untersuchungen um abzuklären wie verbreitet ein solcher Typ 3 ggf. ist.
Worauf sprechen hochsensible Menschen besonders an?
Michael Pluess bezeichnet Hochsensibilität in seiner Forschung auch als „Vantage Sensitivity“. Das bedeutet, dass Hochsensible nicht nur negative, belastende Reize besonders schnell aufnehmen, sondern auch positive. „Vantage Sensitivity“ bedeutet also, dass Hochsensibilität in beide Richtungen wirksam werden kann, zum eigenen Vorteil und zum Nachteil. [12]
Es gibt auch Untersuchungen, die zeigen, dass hochsensible stärker als nicht-hochsensible Menschen von Angeboten profitieren, die die eigene Resilienz stärken. [13] Das stützt die Annahme, dass Hochsensibilität als „Vantage Sensitivity“ wirksam wird.
Die Untersuchung von Bürger und seinen Kollegen stellt diese Annahme dagegen in Frage. Demnach würden Menschen vom Typ 1 deutlich stärker auf positive Reize ansprechen als auf negative. Und Menschen vom Typ 2 würden deutlich stärker auf die positiven Reize ansprechen. [z. B. 13] Auf beide Angebote gleichermaßen würden nur Menschen vom Typ 3 reagieren – der aber möglicherweise nicht so oft vorkommt.
Die Ergebnisse von Bürger und Kollegen weisen also darauf hin, dass man neuere wissenschaftliche Theorien über Hochsensibilität noch einmal überdenken muss.
Gibt es weitere Teilbereiche von Hochsensibilität?
Die beiden Typen der Hochsensibilität basieren auf dem HSPS-G, also der deutschen Fassung des Fragebogens von Elaine Aron.
Dieser Fragebogen ist aber aus mehreren Gründen kritisiert worden. So beziehen sich die Fragen insgesamt eher auf die negativen Seiten der Hochsensibilität. Außerdem sind sie aus wissenschaftlicher Sicht manchmal nicht optimal formuliert.
Und der Teilbereich der Ästhetischen Sensitivität, der für die Unterscheidung der beiden Typen so wichtig ist, beruht nur auf fünf Fragen. Die anderen beiden Teilbereiche setzen sich dagegen aus deutlich mehr Fragen zusammen. [11]
Seit zwei Jahren gibt es einen neuen Fragebogen zur Hochsensibilität von de Gucht et al. Sie decken in ihrem Fragebogen insgesamt sechs verschiedene Teilbereiche von Hochsensibilität ab. Dabei berücksichtigen sie positive und negative Seiten von Hochsensibilität gleichermaßen. [11]
Außerdem stellen de Gucht und Kolleg*innen auch Fragen zu Bereichen von Hochsensibilität, die im Fragebogen von Elaine Aron nicht oder nur mit einer Frage abgedeckt sind. Dazu zählen insbesondere Sensitivität für Reize und Veränderungen im eigenen Körper sowie Sensibilität im Umgang mit anderen Menschen.
Wenn mehr Teilbereiche von Hochsensibilität abgedeckt werden, ergeben sich natürlich auch mehr Möglichkeiten, zwischen mehr als zwei Typen zu unterscheiden. Forschung dazu steht aber noch aus.
Zusammenfassung
In ihrer Forschung bauen Bürger und seine Kollegen darauf auf, dass sich drei Teilbereiche von Hochsensibilität identifizieren lassen: Leichte Erregbarkeit, Niedrige Reizschwelle und Ästhetische Sensitivität. Sie können zeigen, dass es zwei verschiedene Typen hochsensibler Menschen gibt, je nach Ausprägung ihrer Werte in den drei Teilbereichen.
Menschen vom Typ 1 weisen hohe Werte für Leichte Erregbarkeit und Niedrige Reizschwelle auf und nur leicht überdurchschnittliche Werte für Ästhetische Sensitivität. Außerdem fallen ihre Werte für die folgenden Persönlichkeitsmerkmale und Facetten hoch aus: Neurotizismus (wie z.B. Ängstlichkeit oder Reizbarkeit), Ehrlichkeit, Bescheidenheit, Besonnenheit und Offenheit für Fantasie.
Für Hochsensible vom Typ 2 sind dagegen hohe Werte für Ästhetische Sensitivität und nur etwas überdurchschnittliche Werte für Leichte Erregbarkeit und Niedrige Reizschwelle charakteristisch. Außerdem zeigen sie hohe Werte für verschiedene Bereiche von Extraversion (Herzlichkeit, Aktivität und Frohsinn) auf sowie u. a. für Kompetenz, Leistungsorientierung sowie Offenheit für Ästhetik, Kunst und Gefühle.
Literatur
[1] Bürger M, Münscher J-C and Herzberg PY (2024) High sensitivity groups with distinct personality patterns: a person-centered perspective. Front. Psychol., 15, 1336474. doi: 10.3389/fpsyg.2024.1336474
[2] Sobocko, K., & Zelenski, J. M. (2015). Trait sensory-processing sensitivity and subjective well-being: Distinctive associations for different aspects of sensitivity. Personality and Individual Differences, 83, 44–49. https://doi.org/10.1016/j.paid.2015.03.045
[3] Lionetti, F., Aron, A., Aron, E. N., Burns, G. L., Jagiellowicz, J., & Pluess, M. (2018). Dandelions, tulips and orchids: Evidence for the existence of low-sensitive, medium-sensitive and high-sensitive individuals. Translational Psychiatry, 8(1), 1–11. https://doi.org/10.1038/s41398-017-0090-6
[4] Konrad, S., & Herzberg, P. Y. (2019). Psychometric properties and validation of a German High Sensitive Person Scale (HSPS-G). European Journal of Psychological Assessment, 35(3), 364–378. https://doi.org/10.1027/1015-5759/a000411
[5] Herzberg, P. Y., Fricke, K. R., & Konrad, S. (2022). Normierung der deutschen Fassung der Highly Sensitive Person Scale (HSPS-G) – Selbstbeurteilungsskala an einer deutschsprachigen Stichprobe. PPmP – Psychotherapie – Psychosomatik-· Medizinische Psychologie, 72(3/4), 108–116. https://doi.org/10.1055/a-1494-3892
[6] McCrae, R. R., & Costa, P. T., Jr. (2008). The five-factor theory of personality. In O. P. John, R. W. Robins, & L. A. Pervin (Eds.), Handbook of personality: Theory and research (3rd ed., pp. 159–181). The Guilford Press.
[7] Costa P.T., McCrae R.R. NEO PI-R Professional Manual. Psychological Assessment Resources; Odessa, FL, USA: 1992.
[8] Evans, D. E., & Rothbart, M. K. (2009). A two-factor model of temperament. Personality and Individual Differences, 47(6), 565–570. https://doi.org/10.1016/j.paid.2009.05.010
[9] Golonka, K., & Gulla, B. (2021). Individual differences and susceptibility to Burnout Syndrome: Sensory processing sensitivity and its relation to exhaustion and disengagement. Frontiers in Psychology, 12, 751350. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2021.751350
[10] Lionetti, F., Pastore, M., Moscardino, U., Nocentini, A., Pluess, K., & Pluess, M. (2019). Sensory Processing Sensitivity and its association with personality traits and affect: A meta-analysis. Journal of Research in Personality, 81, 138–152. https://doi.org/10.1016/j.jrp.2019.05.013
[11] De Gucht, V., Woestenburg, D. H. A., & Wilderjans, T. F. (2022). The different faces of (high) sensitivity, Toward a more comprehensive measurement instrument. Development and validation of the Sensory Processing Sensitivity Questionnaire (SPSQ). Journal of Personality Assessment, 104(6), 784–799. https://doi.org/10.1080/00223891.2022.2032101
[12] Pluess, M., & Belsky, J. (2013). Vantage sensitivity: Individual differences in response to positive experiences. Psychological Bulletin, 139(4), 901–916. https://doi.org/10.1037/a0030196
[13] Soons, I., Brouwers, A., & Tomic, W. (2010). An experimental study of the psychological impact of a Mindfulness-Based Stress Reduction Program on highly sensitive persons. Europe’s Journal of Psychology, 6(4), Article 4. https://doi.org/10.5964/ejop.v6i4.228